Prof. Dr. A. A. Bispo, Dr. H. Hülskath (editores) e curadoria científica
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No. 85 (2003: 5)


 

    Entidades promotoras
    Akademie Brasil-Europa
    I.S.M.P.S. e.V./I.B.E.M.: Institut für Studien der Musikkultur des portugiesischen Sprachraumes/Instituto Brasileiro de Estudos Musicológicos
    ACDG: Associação Cultural Cante e Dance com a Gente (Novo Hamburgo RS)
    Institut für hymnologische und musikethnologische Studien e.V. (Maria Laach)

    Direção geral
    Dr. Antonio A. Bispo
    Direção Forum RS
    Dra. Helena de Souza Nunes, Rodrigo Schramm

© Foto: H. Hülskath, 2002
Archiv A.B.E.-I.S.M.P.S.

 

TROVADORES AM MITTLEREN TIETÊ

Julieta de Andrade

 

Cururu ist eine Spielform nicht-formalen Theaters mit Dichtkunst, Musik und Tanz, das sich bei Festgelegenheiten ereignet, die mit dem Kult des Heiligen Geistes in der Region des mittleren Tietê im Bundesstaat São Paulo zusammenhängen. In historischer Hinsicht deutet alles darauf hin, daß es als Folge der Streifzüge der Bandeirantes zu den heutigen Staaten Mato Grosso do Sul und Mato Grosso gebracht wurde, wo es in die Feste des Heiligen Geistes und des hl. Johannes d.T. integriert wurde und durch Analogie auch bei Festen von Heiligen individueller Devotion aufgeführt wird, die in Häusern der Gläubigen oder außerhalb der Kirchen stattfinden.

Nach der Meinung der Ausführenden handelt es sich dabei um einen wichtigen Disput zwischen Trovadores. Er erscheint in Gebieten, die traditionell von Geistlichen der Franziskaner-Orden missioniert wurden. Sein Areal deckt sich mit dem Weg, den die aus Portugal über die Azoren kommenden Franziskaner beim Eindringen in das Hinterland genommen haben. Entlang dieses Weges gibt es bis heute noch Trovadores bei den Festen des Heiligen Geistes. Es ist daran zu erinnern, daß der hl. Franz von Assisi in seiner Jugend, als er ein leichtlebiger Dichter und Sänger war, auch ein Trovador war.

Der Begriff Cururu entspricht dem Terminus Corola (Kreis, kleiner Kranz; auf Französisch: Carolle). Er hat die Konnotation eines Tanzkreises um den Altar mit Gesängen und Gedichten von religiöser Thematik, der nach dem Kult im Westen des mittelalterlichen Europas gebildet wurden. In Brasilien heißt dieses Kreisbilden "fazer arrodiado".

Im Bundesstaat São Paulo zeigt sich eine Cururu-Sitzung in folgender Weise: Wenn es ein Gelübde (des Festveranstalters oder eines Sängers) gibt, wird es mit dem Kreistanz der Sänger, Instrumentalisten und dem Gläubigen, der es versprochen hat, ausgeführt. Der Kreis dreht sich gegen den Uhrzeigersinn. Der Hals der Viola muß in Richtung der Mitte des Kreises zeigen. Eine Umdrehung in der anderen Richtung würde den magischen Sinn der Ausübung neutralisieren. Die Gelübde betreffen im allgemeinen Danksagungen für Genesung von ernster Erkrankung. Man bittet die Zuschauer um absolute Stille.

In dem Kreis singen die Trovadores, die ihre Strophen an die vorhergehenden anknüpfen, indem sie den letzten oder die beiden letzten Verse wiederholen. Sie schließen so eine Kette von Tanz, Dichtkunst, Musik und Gebet zugunsten des Lebens des Gläubigen. Die Themen sind religiöser Natur oder zumindest ernsten Charakters. Die Choreographie besteht darin, den rechten Fuß nach vorne zu setzen, den linken nachzuziehen und dann kurz zu pausieren.

Nach dem Gelübde beginnt der Disput.

Die Reihenfolge des Auftritts der Sänger wird mit kleinen Zetteln mit deren Namen ausgelost. Die letzten müssen ihre Argumente den vorhergehenden Vorträgen entnehmen.

Jeder der Sänger beginnt seinen Vortrag nach Belieben mit einer Melodie ohne Worte, - Verse sind rar. Damit stellt er seine Seele dar, seine Kunst, seine Intonation, seine Art, das Leben zu verstehen, da er sich mit einer bestimmten Art und Weise, Musik zu schaffen, dem "baixão", identifiziert.

Die Tatsache, ein Trovador zu sein, bestimmt eine Art von Künstler, der Humor verbreitet, Drama, Musik, Gedicht und Tanz ausübt und zum Glauben führt. Der "baixão" ist das persönliche Sprachrohr eines jeden Sängers.

Nach dem "baixão" und dem Applaus beginnt der Gesang der Toada, deren Phrasen so lang wie die Verse sind und dessen Ausdehnung mit der einer Strophe übereinstimmt. Da diese die Länge hat, die ihr der Künstler nach seiner spontanen Kreativität? geben möchte, weist die Melodie Binnenphrasen auf, die sich wiederholen -- in der Regel zwei hintereinander -, um den Bedürfnissen der Dichtung nachzukommen. Die letzten musikalischen Phrasen geben das Muster der letzten Strophenverse wieder.

Die Toada hat keine vorbestimmte Länge, sondern diese hängt von der Argumentation und der Popularität des Sängers ab. Lange oder viel zu singen bedeutet in der Alltagssprache eine große Anzahl an Strophen mit bis zu achthundert Versen (Andrade, 1992). Der Künstler und die Zuschauer begeistern sich und vergessen die Zeit!

Jeder Künstler nimmt jedoch üblicherweise nur zwanzig oder dreißig Minuten in Anspruch. Die erste Probe besteht aus Reimen auf "-ão", wie z.B. São João, d.h. hl. Johannes. Der zweite Reim folgt der Endung des Wortes "Sagrado" - sakral; der dritte folgt "Divino" - göttlich. Es gibt keine festgelegte Anzahl von solchen "Kreisen", und die Reime werden vom "Pedestre", dem Zeremoniemeister, ausgewählt. Aus ökonomischen Gründen wird dieses Amt neuerdings vom ersten Sänger mit übernommen, denn alle müssen gleich viel verdienen: Pedestre, Sänger und Instrumentalisten. Aus dem gleichen Grund begleitet jeder Viola-Spieler zwei Trovadores und jeder Trovador spielt Handtrommel, um den Vortrag seines Partners zu bereichern. Dennoch ist der Cururu eine Darstellung, die den Veranstalter teuer kommt. Er wird aber trotz aller Krisen weiterhin gepflegt, da er dem dichterisch-musikalischen Geschmack der Bevölkerung entspricht und den Gästen kostenlos dargeboten wird. Er hat einen ästhetisch-theatralischen Sinn als Komödien-Form in Versen, ohne die emotionalen und dramatischen Züge einer Sozialkritik zu verlieren.

Bei der letzten Darbietungsreihe am frühen Morgen ist der obligatorische Reim "-ia" (eine "carreira" aus Dia oder Claro-do-dia = Tag bzw. Helle des Tages). Es gibt Reime auf Imperador - Kaiser (oder Unser Herr oder Guter Herr) -, auf hl. Vicente u.v.a.

Wie erklärt sich der Begriff "carreira"? Weil das Leben eine Straße ist, die man bestreiten muß, und der Reim der Weg der Verse ist. Beim Cururu geht es um Tropen, mit denen ein Gegenstand aufgrund eines mentalen Vergleiches mit einem anderen Begriff bezeichnet wird . So kann alles - auch die Aktion des Protagonisten selbst - in symbolischer Weise miteinbezogen werden. Er lebt auf der Bühne eine Rolle, die nicht die seiner konkreten Realität ist, sondern die seines virtuellen Lebens als Repräsentation einer Figur. Die Streitereien, die Angriffe und die Gegenangriffe sind erfunden. Es sind Situationen, die mit Anmut und falschem Realismus nur deshalb erschaffen werden, um die Zuschauer zu zerstreuen.

Wer einem Cururu beiwohnt weiß es: das, was auf der Bühne gesagt wird, bleibt auf der Bühne - es gehört zum "Fest des Tue-so-als-ob".

Seit dem Mittelalter des westlichen Europas war der Trovador ein umherziehender Dichter, der von Ort zu Ort, vom Kastell zu Kastell, von Haus zu Haus, von Stadt zu Stadt höfische Liebeserweise, Höflichkeiten und freche Späße verbreitete. Ein Thema, das peinlich, vielleicht sogar anstößig sein kann, wird von ihm mit einer unschuldig anmutenden Metapher umschrieben. Er singt es nur zur Hälfte, deutet aber das Fehlende an, das von den Verstehenden erfaßt wird. Er wirft seine Verse dem Publikum mit Andeutungen und vielem Lachen zu.

Keiner wird verletzt. Und die Religion? Und Gott? Nun, Gott versteht alles. Sogar den Cururu.

Oft wird die Sitzung bis zum nächsten Tag verlängert, da dies im allgemeinen ein Sonntag ist und die Teilnehmer sich ausruhen können. Das ist der Grund, warum die Mehrheit der Cururus am Samstagabend aufgeführt werden.

Für unsere Tagung habe ich Teile der Dokumente einer Cururu-Sitzung vorbereitet, die zur Erfüllung eines Gelübdes für die Gesundheit von Nhô Serra abgehalten wurde. Es handelt sich um einen "baixão" und eine Toada der "carreira" von Johannes d.T., die die Vortragsweise jedes Sängers demonstriert, sowie das Beispiel eines abschließenden Disputs, um das Ende einer Sitzung zu erläutern.

Zusammenfassend geht es hier um eine Sitzung, bei der die Trovadores einen Wettgesang zu Gelegenheiten ausführen, die mit dem Kult des Heiligen Geistes verbunden sind. Er kann in Regionen von São Paulo, Mato Grosso do Sul und Mato Grosso beobachtet werden, d.h. an dem Weg, der bei den Streifzügen der Kolonialzeit in Richtung Westen genommen worden war. Dieser Weg war auch der der Franziskaner, die noch heute Niederlassungen in Städten wie Campo Grande und Chapada dos Guimarães besitzen. Der Orden wurde von einem Mann gegründet, der auch Trovador war und der sich mit Mitteln der Dichtkunst Zeit seines Lebens ausgedrückt hat. Zu den Franziskanern gehörte auch der Geistliche, der in besonderer Weise die Anbetung des Heiligen Geistes förderte: Joachim von Fiori.

In Portugal, auf den Azoren und in Brasilien, vor allem in São Paulo, verbreiteten sich die Feste des Divino, des Göttlichen Heiligen Geistes, die auf ihre Stifterin, die Königin Isabel von Portugal, zurückgehen. Diesem Fest gehören zwei Arten von Gesängen der Trovador-Art an: der Gesang der Folia do Divina mit Vierzeilern - zweilen aus wiederholten Dystika - mit Refrain, eine auf Portugal zurückgehende Tradition; und ein Gesang mit längeren Strophen, eine noch ältere Tradition nach Art der "sirventés", die auf den Süden Frankreichs zurückweist.

Wie die mittelalterlichen Trovadores drücken sich die Cururu-Teilnehmer durch gesungene Dichtungen aus, ein Wettbewerb, der das Austragen von Schwertkämpfen ersetzte (Mejean 1971, Aurell 1989). Sie begleiten sich mit der Viola, einem Instrument aus der Lauten-Familie.

In einem poetischen Streit in der Nacht wird der Sieg von Zuschauern und Teilnehmern ohne Diskussion dem besten Sänger zugesprochen. Während der Sitzung gibt es - wie bei den "sirventes" - Äußerungen der höfischen Liebe und Austausch von Freundlichkeiten zwischen Sängern und Zuschauern.

Wie schon im Mittelalter reisen die Cururu-Sänger umher, verwenden ein reichhaltiges Repertoire von Stilfiguren - vor allem Metaphern, Metonymien und Periphrasen - und verdienen dadurch Beinamen wie "Löwe des Cururu" oder "Kanarier des Reiches" (Manezinho und Zico Moreira).

Weder verband sich der Jesuiten-Orden historisch ausdrücklich mit dem Kult des Heiligen Geistes noch pflegten die Indianer Theater mit Wettbewerbssitzungen. Die Jesuiten setzten das Theater für die Katechese in Form von Autos ein, religiöse Schauspiele in Prosa in der Tradition von Gil Vicente. José de Anchieta schrieb Dichtungen, nicht aber gesungene Wettgesänge.

Deshalb macht es keinen Sinn, von einer indianisch-jesuitischen Ausdrucksweise zu sprechen, um den Cururu kulturwissenschaftlich zu analysieren. Nichts, was ihn charakterisiert - dichterische Improvisation, Gesang mit olalai, Toadas mit Handlung und höfische Liebeserweise - findet sich in der Indianerkultur der Tupi oder Tupi-Guarani.

Die Religion der Indianer, die in ihrer Symbolik zur Zeit der Katechese leider nicht verstanden wurde, wird erst heute allmählich studiert. Sie hat jedoch nichts mit dem Kult des Heiligen Geistes gemein. Der Tupi bzw. der Tupi-Guarani-Indianer oder der Guarani erweist dem Vater (Tu) Kult, dem Schöpfer von allem (Pan), mit sakralem Gesang und Tanz (jeroky, vgl. griechisch lerourgia = religiöse Feier) ohne poetisches Fechten, Herausforderungen oder höfische Liebe.

Dichtung und Musik

Wie kann ein Cururu-Sänger so viele Verse improvisieren, wenn er lediglich eine sehr beschränkte Schulbildung genossen hat, wie dies bei der Mehrheit der Fall ist?

An erster Stelle ist darauf hinzuweisen, daß dieses Können vom Grad der Schulbildung nicht abhängt. Die Konstruktion der Trova-Dichtung fängt mit der Suche nach Reimen und deren Sammlung an: die Reime auf -ão, -ado, -ino und -ai. Wenn der Sänger bereits mit diesen Reimen frei umgehen kann, dann sucht er schwierige "carreiras": Endungen auf -ina (Santa Catarina), -or (Imperador, Bom Senhor), -ente (São Vicente), -ano (carreira do ano). Er bereitet auch Verse vor, die bei mangelnder Inspiration eingesetzt werden können.

Anschließend bereitet er die Struktur der Verse vor, indem er jeden Vers der jeweiligen Endung anpaßt. Es handelt sich um eine mentale Übung, die der Dichtkunst Flexibilität und Leichtigkeit verleiht. Ein kurzes Beispiel dafür: "Eu fiz um versinho bão; eu fiz um verso cuidado, eu fiz um verso ladino; versinho bão eu fazia, fiz um verso coisa fina; fiz um verso de valor, eu fiz um verso decente; fiz um verso meio insano…" usw. mit Reimen für die verschiedenen "carreiras".

Im Moment des Singens kommen die Verse mit dem zu Hause, in der Stille und in der Selbstvervollkommnung des Sängers gesammelten Material in Erinnerung. Während er seinen Beruf ausübt, denkt er an Reime und komponiert er Verse, d.h. er studiert. Um zu variieren, denkt er an Melodien, kombiniert melodische Phrasen, lebt seine Kunst. Wenn er müde ist, dann schafft er neue "baixões", studiert die Argumente gegen einen Kollegen und bereitet die Kämpfe für die Bühne vor. In den Stunden der Muße nimmt er die Viola und verwirklicht so das musikalisch Erschaffene.

Ist dies einfach? Keinesfalls! Es ist schwer, setzt sehr viel Disziplin, Beharrlichkeit und jahrelange Übung voraus. Es stellt einen Selbsterziehungsprozeß dar, der das ganze Leben andauert: Zuco Moreira sang Cururu bis zu seinem 99. Lebensjahr im Jahre 2002!

Sein Schaffen hängt auch mit seinen Gesprächen über das Thema mit Kollegen, mit dem Austausch von Informationen und mit Erfindungen und Entdeckungen zusammen.

Es handelt sich dabei um einen vergleichbaren Prozeß der Vervollkommnung, den auch ein Wissenschaftler durchmacht, denn keiner schafft etwas alleine.

Die Musik der "baixões" stellt vielfach die persönliche Reinterpretation einer Melodie dar, die dem Cururu-Sänger gefiehl. Die Toada-Melodie komponiert er zu Hause, indem er sich dabei mit der Viola begleitet. Jede Phrase entspricht einem Vers der Strophe. Wenn er Strophen mit einer größeren Anzahl von Versen singt, dann wiederholt er Binnenglieder der Phraseologie.

Choreographie: der Arrodiado

Der Cururu wurde als mit Gesang und Dichtung begleiteter Tanz mit möglichen indigenen Urprüngen angesehen, z.B. bei Antonio Cândido, oder als ein Kulturphänomen indigen-jesuitischer Formung, wie von Mário de Andrade und Rossini Tavares de Lima. Meine Forschungen haben mich jedoch zur französischen Kunst der Troubadours und zur Carole geführt, die von Curt Sachs139 mit der Carola in Verbindung gebracht wurde (Kronentanz bzw. Piccola ghirlanda, Piccola corona). Für Sachs war die Carola eine Form des alten Chorkreises in der Erscheinung des nach innen gerichteten Typus mit seiner Symbolik von Tod, Lebensfreude und Frühling.

Nach Sachs werden Tänze von Paaren ausgeführt. Die Carola zeichnet sich aber dadurch aus, daß sie eine Abstraktion ist, die vom Ursprung des Tanzes schlechthin spricht. Sie ist ein Paartanz, wenn sie sich mit dem Leben und der Dichtkunst der Troubadours verbindet. Er unterscheidet somit Tanz und Carola und weist auf ihre unterschiedlichen Erscheinungen im Roman de la rose hin.

Nach Robert Lafont waren die Choreae die populärste Form, in Gruppen zu tanzen, wie bei den getanzten Zeremonien auf den Faröer-Inseln. Lafont erwähnt die Carola im Kult des Heiligen Foy in Conques: "La carole de Saint Foy a existé (…) in cappis et cum Karola, sed sine processione."140

Im gleichen Werk spricht dieser Autor von getanzter Liturgie: "(…) ce qui fut d'abord intrusion populaire anarchique dans le culte réglé (…)." Er weist auch darauf hin, daß nach der Aufführung der Estampida genannten Tanzmusik die Tänzer sich die Hände reichten, um zu "carolar" 141

Auf der anderen Seite war wiederum die Carola keinesfalls eine nur französische Erscheinung. Sachs erwähnt die Bezeichnungen Kolo, Carole, Chorea, Reigen, Rota, Rueda, Corola (Aussprache: Curulo) für die mystischen Ronden als Kulturphänomene des Balkans, Frankreichs, Mittel- und Norddeutschlands, Italiens, Spaniens und der Provence 142

A. A. Bispo widmete eine eingehende Untersuchung den Grundlagen der christlichen Musikultur der außereuropäischen Räume in der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung des Raumes des früheren portugiesischen Patronats (Musices Aptatio 1987/88). Er untersuchte dort den magischen Sinn des Zirkeltanzes auf der iberischen Halbinsel in vor- und frühchristlicher Zeit. Er stellte auf Grund umfassender Durchsicht der Literatur Bezüge historisch-anthropologischer Natur zwischen den Quellen her. Dadurch erstellte er ein Gesamtpanorama der Entwicklungen, die in jeder Fallstudie in Einzelheiten untersucht werden. In der Betrachtung des Mittelalters wird die Vermischung heterodoxer Elemente mit Praktiken, die durch die Lehre der Kirche begründet waren, dargestellt. Diese Vermischung kann bis in die Spätantike zurückverfolgt werden und führt zu den aktuellen Kreistänzen der Folia do Divino, des hl. Johannes (S. 299) und des hl. Gonçalo in Brasilien (S. 293).

Aus der gemeinsamen Berücksichtigung der Arbeiten von Curt Sachs und von A. A. Bispo kann man Schlußfolgerungen zum Verständnis des abstrakten Charakters der Kreis-Tänze ziehen. Die Umwandlung antiker Kulturerscheinungen gewährt nach Bispo erst ihre Permanenz in der christlich-abendländischen Kultur. Allerdings verblieben dabei Ausdrucksweisen, die als heterodox in dem neuen Kontext bezeichnet werden könnten. Das mittelaltliche Laientum konstruierte durch die Rezeption von rituellen Elementen der Katholischen Kirche und ihre kulturelle Inkorporation das symbolische System heutiger Volkskultur. In diesem Zusammenhang sei auch an das Substraktum des gregorianischen Chorals in den Litaneien, Gebeten, Triduen und Novenas in privaten Häusern Brasiliens erinnert. Ein anderes Beispiel, das im Zusammenhang mit diesem Mechanismus der Kulturformung zu sehen ist, ist der "baixão" des Cururu, der sich auch mit den Gesängen auf den Silben -olalai, -eiaaaa, -eaaaa der Musik der Troubadours verbindet. Sie können in der Musik Galiziens, Portugals und der Azoren angetroffen werden. Ich habe zusammen mit Luiz Fernando Andrade Soares Teile des Santiago-Weges (Carrieras auf Okzitanisch)besucht und die Architektur studiert, die man Carola nennt. Kreuzförmige Kirchen weisen der Carola den Raum um den Altar zu. Dort standen die katholischen Trovadores des Mittelalters.

Jeder Forscher kann nur einen Aspekt einer Thematik studieren, und diese Spezialisierung trägt zur Vertiefung der Erklärung der Ausdrucksweisen des Menschen bei. Der letzte bibliographische Hinweis hierzu betrifft die Eintragung im Dictionnaire de l'Ancien Français von A. J. Greimas, in dem Carole als eine Variante von Querole erklärt wird: "carole, querole n.f. (1155), Wace; probabl. à partir d'un dérivé du lat. Chorus. Du grec). 1° Danse em rond, danse em gén. - 2° Divertissements dont la danse fait partie. - 3° Assemblée, cercle, réunion. - 4° Colonnes placées en cercle. // caroler v. (1160, Bem.) 1° danser en rond. - 2° Se divertir. // caroloier v. (1298. M. Polo). Danser, s'amuser. /// caroleor n.m. (1277, Rose). Danseur, noceur."143

Es ist darauf hinzuweisen, daß in der brasilianischen Umgangsprache derjenige, der stets in die Kirche geht, als "carola" bezeichnet wird, da er stets um den Altar herum ist!

1985 konnte ich in Toulouse einen ersten Vortrag über die brasilianischen Trovadores aus São Paulo vor französischen Universitätsprofessoren verschiedener Fakultäten halten und dabei Tonbeispiele vorgetragen. Der renommierte Experte Peire Bec dankte mir - nachdem er aufmerksam den "baixão" und die Toada gehört hatte - dafür, Musik und Dichtung der Troubadours nach Frankreich zurückgebracht zu haben. Er habe sie sechzig Jahre lang in Frankreich untersucht, kannte sie aber nur aus dem Schrifttum.

Heute - nach 17 Jahren - beginne ich, mich schon viel intensiver in der Welt des Cururu zu Hause zu fühlen. Ich selbst schulde den Sängern das, was ich weiß, vor allem dem Manezinho, dem Tonhão, dem Zico Moreira, dem Pedro Chiquito, dem Moacir Siqueira, dem Jonata Neto, dem Horácio Neto, dem Edgard Belboux, dem Luizinho Rosa, dem Noel Mathias, dem Quinzinho Rosa u.v.a.

Schwer verständlich war für mich der berufliche Aspekt: Warum müssen die Cururu-Sänger, die so anerkannt sind und stets gerufen werden, anderen Berufen nachgehen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen? Ich verdanke mehr Klarheit in dieser Frage einem jüngeren Kollegen, der ebenfalls im Bereich der Humanwissenschaften arbeitet und dazu ein Theaterprojekt für soziale Ziele entwickelt, in dem ein Clown eine große Rolle spielt. Als ich ihn fragte, warum er seine arbeitsreiche Lehrtätigkeit nicht beende, wo doch das Theaterprojekt dermaßen erfolgreich sei, erhielt ich als Antwort: "Nein, Lehrer ist mein Beruf, die Theaterrolle ist mein Lebensprojekt!"

Dieser Satz half mir, die Mentalität der Cururu-Sänger besser zu verstehen. Ich vermute, hier liegt der Weg, diese Trovadores angemessen zu untersuchen. Es handelt sich um einen Mechanismus, den wir alle hier offenbar erleben, weil wir eine Duplizität im Leben erfahren. Ich selber war mein ganzes Leben lang Hochschullehrer, um dabei meinem Lebensprojekt - der Forschung - nachgehen zu können. Es war mir aber nicht bewußt, daß beide Aspekte komplementär sind, vor allem in einem Land, das einen so großen Bedarf an Forschern hat: Lehre ist eine Berufung, Forschung ein Lebensprojekt.

[Aus der Tonaufnahme des Vortrags, ohne Notenbeispiele und Graphiken]

 

Literatur

Andrade, Julieta de. Cururu, Espetáculo de Teatro não-formal, Poético-Musical e Coreográfico. Um Cancioneiro Trovadoresco do Médio Tietê, SP. Tese de Doutorado em Artes (Artes Cênicas), Universidade de São Paulo - USP, 1992 (Unveröffentlicht)

----------. Soares, Luiz Fernando de Andrade e Huck, Roberto. Identidade Cultural no Brasil, Vargem Grande Paulista: A9 Editora e Empreendimentos, 1999.

Aurell, Martin. La vielle et l’epée. Troubadours et Politique en Provence au XIIIe siècle. Aubier, 1989.

Bispo, Antonio Alexandre. Grundlagen christlicher Musikkultur in der außereuropäischen Welt der Neuzeit: Der Raum des früheren portugiesischen Patronatsrechts, 2 vols., in: Musices Aptatio/Liber Annuarius, hg. J. Overath, Köln: CIMS, 1989.

Cândido, Antonio. Possíveis raízes indígenas de uma dança popular, in Revista de Antropologia IV, 1956. São Paulo: Universidade de São Paulo.

Greimas, A. J. Dictionnaire de l’Ancien Français. Paris: Ed. Réference-Larousse, s/d.

Lafont, Robert. Trobar-XIIe et XIIIe Siècles. Montpellier, Centre d’Études Occitanes? Université de Montpellier III, 1972.

Mejean, Suzanne. La Chanson Satirique au Moyen Age. Choix de texts avec introduction grammaticale et glossaire. Paris: A. G. Nizet, 1971.

Mejean, Suzanne Thiolier. Les Poesis Satirique et Morales des Trobadours du XIIe Siècle à la Fin du XIIIe Siècle. Tese d’Etat soutenue à l’Université de Paris - Sourbonne le 23 Juin 1973. Paris: A. G. Nizet, 1978.

 

Alguns textos dos anais do Congresso foram publicados em:/Einige Texte der Annalen des Kongresses wurden veröffentlicht in:
Musik, Projekte und Perspektiven. A.A. Bispo u. H. Hülskath (Hgg.).
In: Anais de Ciência Musical - Akademie Brasil-Europa für Kultur- und Wissenschaftswissenschaft. Köln: I.S.M.P.S. e.V., 2003.
(376 páginas/Seiten, só em alemão/nur auf deutsch)
ISBN 3-934520-03-0

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