Prof. Dr. A. A. Bispo, Dr. H. Hülskath (editores) e curadoria científica
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N° 73 (2001: 5)


 

Brasil 2001
Colóquio/Kolloquium

ZUR ERÖFFNUNG EURO-BRASILIANISCHER ARBEITEN IM 21. JAHRHUNDERT
ABERTURA DOS TRABALHOS EURO-BRASILEIROS NO SÉCULO XXI

9.-11. Februar 2001
9 a 11 de fevereiro de 2001

Akademie Brasil-Europa
Institut für Studien der Musikkultur des portugiesischen Sprachraumes Instituto Brasileiro de Estudos Musicológicos Sociedade Brasileira de Antropologia da Música

Pres. Dr. A. A. Bispo- Dir./Geschäftsführung Dr. H. Hülskath

em cooperação com/in Zusammenarbeit mit:

Musikwissenschaftliches Institut der Universität zu Köln
Institut für hymnologische und musikethnologische Studien
der Consociatio Internationalis Musicae Sacrae (Roma)
Seehotel Maria Laach

 

Einführung

Auseinandersetzung mit dem Barock als Erfordernis für Wissenschaft und Praxis

Dr. Antonio Alexandre Bispo

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich begrüße Sie sehr herzlich, freue mich darüber und danke Ihnen dafür, daß Sie der Einladung zu diesem Kolloquium zu Beginn des Jahres 2001 gefolgt sind. Ganz besonders möchte ich allen Referenten und Musikern, die uns die Ehre geben, zur Gestaltung dieses Abendes beizutragen, herzlichst danken und sie willkommen heißen.

An erster Stelle möchte ich Ihnen die Grußworte des Staatsministers für Kultur Brasiliens Francisco Weffort übermitteln, die er uns nach Erhalt des im Jahr 2000 erschienenen Berichtes über unseren Kongress "Brasil-Europa 500 Jahre: Musik und Visionen" per Fax zukommen ließ. In diesem Bericht sind auch in deutscher Übersetzung seine Worte veröffentlicht, die bei der Eröffnung des Kongresses in der Deutschen Welle verlesen wurden.

Es war für uns eine große Ehre, daß der Kulturminister Brasiliens uns ein gehaltvolles Schreiben übermittelte. Bei früheren Tagungen hatten wir zwar mehrfach die Freude, aufmerksame Grußworte des Kulturministeriums Brasiliens zu erhalten, wie z.B. von Prof. Dr. Celso Furtado anläßlich des I. Brasilianischen Kongresses für Musikforschung 1987. Diesmal merken wir jedoch besonders, wie das Thema des Kongresses: "Musik und Visionen" sowie der Sinn unserer Organisation voll erfaßt und angesprochen wurden.

Damit wurde zu Beginn des Kongresses hervorgehoben, daß unser Ziel keinesweges nur der Musik gilt, sondern diese nur insoweit betrifft, als sie in Zusammenhang mit der Philosophie betrachtet wird. Aus den Worten des Kulturministers können wir eine Verpflichtung erkennen, uns an die Ursprünge dessen zu erinnen, was wir heute A.B.E. und I.S.M.P.S. nennen. Wir arbeiten so eng mit Musikwissenschaftlern und Musikern zusammen, daß die Gefahr besteht, daß unser Ziel mißverstanden wird, ja daß wir selbst uns oft Sichtweisen, Bestrebungen und Sorgen von Musikern zu eigen machen und die tatsächliche Aufgabe und Daseinsberechtigung unserer Organisation, die aus ihrer Tradition erwächst, aus den Augen verlieren. Deshalb ist es immer notwendig, uns an die Herkunft und an die lange eigene, unverwechselbare Geschichte zu erinnern, an die wir uns gebunden fühlen. Dies werde ich kurz am Ende unserer heutigen Sitzung tun.

Zuvor jedoch möchte Ihnen noch Grüße von Freunden aus Brasilien und Portugal ausrichten, die heute nicht anwesend sein können. Ganz besonders möchte ich Ihnen den Gruß unseres Ehrenmitglieds Prof. Dr. Manuel Ivo Cruz, Dirigent des portugiesischen Nationalsymphonieorchesters, übermitteln, der uns aus Porto, der Europäischen Kulturhauptstadt 2001, schreibt.

Auch von der breiten Resonanz unseres letzten Kongresses in Brasilien, Portugal, Belgien, Italien und anderen Ländern hat uns die Stimme von Dr. Ivo Cruz besonders geehrt und erfreut. In einem ausführlichen Bericht in der Zeitung von Porto hob er hervor, daß unser Kongreß, der die Kommemorationen der Entdeckung Brasiliens vor 500 Jahren einleitete und dessen Veranstaltung während des Internationalen Kongresses zur 500-Jahr-Feier der Entdeckung Amerikas 1992 beschlossen worden war, nicht nur eine der größten internationalen Zusammenkünfte von Experten für Musik und Kultur unserer Länder, sondern auch ein beglückendes, von Harmonie und Freundschaft geprägtes Erlebnis für die Teilnehmer war.

Dieser Kongreß markierte nur die Eröffnung der Arbeiten, die sich über die Jahre 2000 und 2001 erstrecken. So sollte das Ende des Milleniums dem Rückblick, der Anfang des neuen Milleniums neuen Visionen und Projekten und das Kommemorationsjahr 2000 selbst gleichsam als eine Brücke der Besinnung auf grundlegende Fragen dienen, die Vergangenheit und Zukunft sowie die zentrale Aufgabe unserer Bestrebungen betreffen. Es war geplant, diese Besinnung in einer Tagung in Brasilien selbst durchzuführen. Es fanden in der Tat seit dem Kongreß zu drei verschiedenen Zeitpunkten Begegnungen mit Vertretern unserer Organisation und anderen Institutionen in unserem Studienzentrum bei S. Paulo und in anderen Orten Brasiliens statt. Auch der Briefwechsel bzw. die Kommunikation per e-mail war besonders intensiv. Die Umstände zur Realisierung einer internationalen Tagung schienen jedoch bisher aus mehreren schwerwiegenden Gründen, die wir hier im Einzelnen nicht erörtern möchten, nicht günstig zu sein. Wir möchten, daß nach einer solchen Tagung die Gäste aus dem Ausland genau wie Dr. Ivo Cruz nach dem Kongreß von 1999 sagen können, "es war rundum ein beglückendes Erlebnis".

Dennoch blieb unsere Organisation im Jahr 2000 keinesfalls untätig. Nach dem Kongreß konzentrierten sich die Überlegungen und Studien vor allem auf ein Haupthema, das wir für das Gedenkjahr der Entdeckung Brasiliens vor 500 Jahren als einzig passend empfanden: die Ethik. Ethische Problemen und Fragen in der historischen Entwicklung sowie in der kulturellen und sozialen Wirklichkeit vor allem der Indianer und anderer minder privilegierter Gruppen in Brasilien sowie im Bezug zur Natur und anderen Kreaturen wurden während des Kongresses vielfach zur Sprache gebracht. Verhaltensweisen, die in ethischer Hinsicht bedenklich sind, stellen wir auch oft in der Geschichte der Wissenschaft fest.

Vor dem Hintergrund dieser Themenwahl wird es verständlich, daß wir einer besonderen Gestalt im Jahr 2000 gedachten, nämlich Albert Schweitzer, einem Arzt, Philosophen, Theologen, Organisten und Musikforscher, dessen 125. Geburtstag in diesem Jahr gefeiert wurde und der mit dem Leitgedanken "Ehrfurcht vor dem Leben" besonders verbunden ist. Wir erinnerten uns daran, daß Albert Schweitzer eine zwar wenig bekannte, aber wichtige Rolle in Brasilien gespielt hat, und zwar vor allem durch die enge Beziehung zu unserem Mentor Martin Braunwieser. A. Schweitzer als großer Bach-Forscher war auch für die von Braunwieser geleitete Bach-Gesellschaft in São Paulo von größtem Einfluß. Da im Jahr 2000 J.S.Bach besonders gedacht wurde, erschien es uns angebracht, die Bach-Pflege und die Rezeption der Anschauungen über Bach in Brasilien unter besonderer Berücksichtigung des renommierten brasilianischen Komponisten H. Villa-Lobos, des Autors der "Bachianas Brasileiras", in einem Kolloquium zu behandeln, das im Monat Mai stattgefunden hat.

Die Wiederentdeckung von Bach in Brasilien in den dreißiger Jahren vor allem anläßlich der Kommemorationen des Bachjahres 1935, in dem auch die Bach-Gesellschaft in São Paulo gegründet wurde, und die Entstehungsgeschichte der "Brasilianischen Bacchianas" von H. Villa-Lobos dienten uns jedoch lediglich als Zugang zu einem weit komplexeren und grundsätzlicheren Problem: der Auseinandersetzung mit dem Barock als Erfordernis für Wissenschaft, Kultur und Geistesleben in Brasilien. Dies entsprach einem besonderen Bedürfnis der dreißiger und vierziger Jahre. Damals hatte man in der Tat nicht nur die europäische Barockmusik gleichsam neu entdeckt, sondern auch das brasilianische Kulturerbe des Barock aus der Blütezeit der Goldförderung in Minas Gerais, insbesonders die bis dahin unbekannten Kompositionen des 18. Jahrhunderts. Ein früher Markstein bei dieser Wiederentdeckung der sogenannten Alten Musik Brasiliens noch vor der Pionierarbeit von Francisco Curt Lange in Minas Gerais war die Zentenarfeier von Pe. José Maurício Nunes Garcia in São Paulo 1929 unter maßgeblicher Mitwirkung von Martin Braunwieser. Heute abend werden wir einen Vortrag über diese größte Gestalt der älteren Musikgeschichte Brasiliens hören.

Diese Wiederentdeckung und neue Würdigung der Vergangenheit, die Wiederbesinnung auf den Barock geschah in einer Zeit erhöhten Bestrebens nach einer eigenen Kulturidentität, der Konsolidierung einer eigenständigen Prägung in Kultur und Kunst, eines adäquaten Stils und national zu nennender Ausdrucksformen. Viele Aspekte dieser Überlegungen der Zeit wurden während unseres Kolloquiums des vergangenen Jahres berücksichtigt.

Das Bedürfnis, sich mit dem Barock auseinanderzusetzen, war allerdings nicht eine abgeschlossene Zeiterscheinung; es bleibt in vieler Hinsicht bestehen. In der Kunstwissenschaft entstanden seitdem mehrere gewichtige Untersuchungen, die sich der Barockarchitektur, der Bildhauerei und der Malerei in Brasilien widmen. In der Musikwissenschaft ist das Interesse für die Musik der Kolonialzeit des Landes in den letzten Jahrzehnten gewaltig gewachsen, auch wenn große Teile der früher als dem Barock zugeordneten Musikdokumente des 18. Jahrhunderts sich nun eher als vor-klassisch erweisen. Die Bemühungen richten sich nicht nur auf die Auffindung und Wiederherstellung der Werke der damaligen Zeit, sondern auf derer adäquate klangliche Wiedergabe. So konnten wir bereits 1973 die Disziplin "Historische Musikalische Aufführungspraxis" in den Fächerkanon der Hochschulstudien in Brasilien einführen. Seitdem haben die Diskussionen und Experimente in diesem Bereich nie aufgehört. Die Frage des Klangbildes der Musik der Vergangenheit und seiner angemessenen Realisierung im Heute wurde in darauffolgenden Tagungen und Publikationen behandelt und scheint auch in der Gegenwart noch so aktuell, daß wir den Kongreß 1999 mit einer Diskussion über Musikalische Aufführungspraxis beendeten.

Zweifellos hat seit dem Anfang der 70er Jahre die organologische Forschung im Raum der portugiesisch sprechenden Länder erhebliche Fortschritte gemacht, wie Prof. Dr. Gerhard Doderer beim Kongreß in seinem Vortrag in der Aula der Universität gezeigt hat. Die Überlegungen richten sich aber bei der Diskussion im allgemeinen darauf, ob allein die Verwendung alter Musikinstrumente sowie die Berücksichtigung theoretischer Traktate und des Standes der Forschung in Europa und Nordamerika ausreichend sind. Angesichts der Tatsache, daß in Ländern wie Brasilien die Musik der Renaissance und des Barock nicht nur durch gehobene Kathedralmusik oder durch die Aristokratie, sondern vor allem durch das einfache Volk aus entlegenen Regionen Portugals eingeführt, in der Missionsarbeit bei Indianern eingesetzt und später vor allem von Mestizen und Nachkommen von Afrikanern gepflegte wurde, stellt sich die Frage, ob nicht auch musikethnologische Aspekte berücksichtigt werden müssen.

Überlegungen bezüglich eines kontextgerechten Verständnisses der Klangwirklichkeit früherer Zeiten und der adäquaten Aufführung in der Gegenwart sind zwar stets in unserer Arbeit seit Jahrzehnten präsent, sie sind aber so bedeutsam, daß sie auch zu Beginn der Arbeit des 21. Jahrhunderts erneut aufgenommen werden sollen. Sie werden aber in unserem Kolloquium unter zwei besonderen Blickwinkeln angestellt. In beiden geht es um die kreative Auseinandersetzung mit Fragen des Barocks in der Gegenwart.

Einerseits werden wir die Freude haben, die Follia Colonia mit dem Vortrag von Herrn J.Paulo Peres zum Choro morgen abend zu hören. Bei der Arbeit dieses Ensembles geht es darum, alte Musikinstrumente nicht nur für den Vortrag von Musik vergangener Zeiten einzusetzen; die Musiker spielen mit Laute und Flauto dolce auch zeitgenössische Kompositionen, Volks- und Popularmusik.

Andererseits haben wir heute die Freude, Frau Maria Bragança zu hören, die gleichsam einen umgekehrten Weg bei ihrer Auseinandersetzung mit dem Barock verfolgt. Sie spielt mit einem modernen Instrument, nämlich dem Saxophon, nicht nur zeitgenössische Kompositionen und Popularmusik, sondern auch Werke aus dem Barockzeitalter und aus der Kolonialzeit Brasiliens.

Die heutigen Darbietungen von Frau Bragança und Herrn Collins können uns nur einen Eindruck von der Arbeit vermitteln, die sie in ihrer CD "Alma Barroca" bietet, in der sie mit verschieden besetzten Ensembles spielt. Ich hatte die Ehre, den Text für das Begleitheft ihrer CD zu verfassen. Mir wurde nach den Gesprächen mit Frau Bragança, in denen sie mir ihre Bestrebungen und ihre Arbeit beschrieb, klar, daß ihr Bedürfnis, alte Musik mit Saxophon zu spielen, keinesfalls abwegig ist. Es zeugt im Gegenteil für eine immer noch lebendige Faszination der Brasilianer für den Barock, die schwer faßbar ist, vielfach kulturphilosophisch interpretiert wurde und eigentlich eine eingehende kulturwissenschaftliche Untersuchung verdient hätte. Bereits bei unserem Kolloquium zu Bach und Villa-Lobos wurden viele diesbezügliche Fragen behandelt, denn die Vorstellungen von Villa-Lobos über Bach, die Art und Weise, wie er sich in seinen Werken auf Bach bezog, sein Enthusiasmus für Bach und zugleich seine Distanz zur Bach-Bewegung erscheinen vielen von uns heute bemerkenswert. Schon in der Literatur der damaligen Zeit wurde zwar versucht, auf die von vielen aufgespürte Ähnlichkeit zwischen bestimmten Erscheinungen der brasilianischen Volksmusikkultur und denen europäischer Werke des 17. und 18. Jahrhunderts einzugehen und sie näher zu bestimmen. Es wurde aber auch versucht, sie nicht nur als kuriose Analogien oder als punktuelle Reste früherer Praktiken zu verstehen, sondern als Ausdrucksweisen einer bestimmten Geisteshaltung und eines Lebensgefühls, das zutiefst in der Kultur des Landes verwurzelt war. Deshalb sprach man schon damals so viel von Seele oder von "Alma brasileira", wie auch Frau Bragança ihre CD "Alma Barroca" genannt hat.

Dieser Hinweis auf die Seele im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung mit dem Barock darf nicht lediglich als eine literarische oder poetische Ausdrucksweise verstanden werden. Erinnern wir uns daran, daß früher eine Disziplin, die Volkskunde, zuweilen ihre Aufgabe darin sah, durch die Untersuchungen von Kulturerscheinungen die Psyche des Volkes zu verstehen und sich sogar Demopsychologie nannte. Die traditionellen Festbräuche, die Tänze und Spiele, die diese Disziplin studierte, wurden nicht umsonst in den ersten Jahrzehnten nach der Entdeckung Brasiliens von Europa aus eingeführt und von den Missionaren gefördert. Sie dienten der geistseelischen Formung einer neuen Gemeinschaft in einer Umwelt, die missioniert und umgestaltet werden sollte. Ihrer einprägsamen Bildersprache wohnten alle Strukturen und Paradigmen inne, die die Sicht von Welt und Mensch bestimmten, und diese wurden immer wieder bei den Festen des Jahres verlebendigt. Diese meist unbewußt vermittelten Vorstellungen bilden ein wahrhaft ganzheitliches System von Typen und Gegen-Typen im Seelischen, das alles umfaßt und zugleich das sinnlich Erfahrbare umwandelt, verwandelt und verklärt. Wenn wir an die innere Bemalung einer barocken Kirche denken und sehen, wie die Darstellungen sich verschränken, aus der Tiefe in Konvulsionen aufsteigen und sich transfigurieren und oben in der Decke fast wie in einem Theater die Vorhänge aufgehen und den leuchtenden Himmel frei machen, dann erkennen wir auch, wie ähnlich die Bildersprache der Spiele und Tänze der religiösen Volksfeste Brasiliens ist, wie auch sie vom Körperhaften, vom Sinnenhaften, ja von der Groteske und dem Bizarren zur Vergeistigung aufsteigen.

Wenn wir dann mit unserer Untersuchung fortfahren und die Quellen und Werke der Jahrhunderte der Entdeckungen genau und chronologisch studieren, dann stellen wir mit Erstaunen fest, daß diese Ähnlichkeit nicht darauf zurückzuführen ist, daß eine bereits ausgeformte Barocksprache nach Brasilien verpflanzt worden war oder daß das Barocke in den tiefen Schichten der Volkskultur Brasiliens lediglich ein Ergebnis von Rezeption ist. Die Festbräuche, die Spiele und die Tänze, die im 16. Jahrhundert dort eingeführt wurden, waren Ausdrucksformen eines Volksbrauchtums früherer Zeiten, aus dem Spätmittelalter Portugals und Spaniens. Erst in der Auseinandersetzung mit den Erfordernissen an Ort und Stelle haben die Missionare, vorwiegend die Jesuiten, die sich genötigt sahen, alle Mittel zur Erreichung ihres Bekehrungszieles einzusetzen, die den Spielen und Tänzen des Volksbrauchtums des Mittelalters innewohnende Typologie des Psychischen an die tropische Welt und ihre Ureinwohner angepaßt. Erst dann erhielten sie die Eigenarten, die wir heute als barock empfinden. Wenn wir die Briefwechsel der Jesuiten genau untersuchen, dann erkennen wir, wie sie ihre ursprünglichen Auffassungen bezüglich Kunst und Musik gerade aus der Erfahrung der Mission in außereuropäischen Ländern geändert haben. Wir haben uns daran gewöhnt, den Barock nur im europäischen Zusammenhang und meist als charakteristische Ausdrucksform der Gegenreformation und des Absolutismus zu betrachten. Mir scheint, daß die Voraussetzungen zur Entstehung des Barock, die in der Missionstätigkeit der Jesuiten außerhalb Europas liegen, viel stärkere Aufmerksamkeit verdienen. Hier läge m.E. ein wichtiger Untersuchungsbereich, der dazu dienen könnte, die Kunst- und die Musikgeschichte über die geographischen Grenzen Europas hinaus zu erweitern.

Allein aus diesen angedeuteten Zusammenhängen können Sie erahnen, welche Fülle von Fragen sich auftut. Eine ganz besondere Frage werden Sie sich aber sicherlich stellen: Was hat dies alles mit Ethik zu tun, das unser Thema des Jahres 2000 war? Wesentliches. Denn das gesamte Weltbild, das durch die Missionierung und Kolonisierung in Brasilien eingeführt wurde und diese barockartige Volkskultur entstehen ließ, birgt bereits die Grundlagen ethischer Probleme der Gegenwart und vielleicht auch deren Lösung in sich. Das ganze System von Typen und Anti-Typen des Psychischen, das unseren Spielen und Tänzen zugrundeliegt, beinhaltet ethische Bewertungen von Natur, Kreatur und Mensch. Solange wir uns mit diesem Zusammenhang von Sinnbildern nicht auseinandersetzen und ihn nicht gleichsam aus dem Unbewußten in das Bewußtsein rücken, besteht weiterhin die Gefahr gravierender Mißverständnisse. Weder die Haltung gegenüber den Indianern noch gegenüber der Natur am Amazonas kann sich dann ändern.

Diese Überlegungen führen uns zu Problemstellungen, die am Anfang der langen Geschichte von Bestrebungen stehen, der sich unsere Akademie verbunden fühlt. Diese Tradition reicht viel länger zurück, als viele von ihnen vermuten mögen. Im Laufe der Jahrzehnte ist es zu verschiedenen Benennungen und Institutionsgründungen gekommen, die nur aus den Erfordernissen der Zeit und der Praxis zu verstehen sind. In Wirklichkeit aber ist Ende der Sechziger Jahre eine Tradition von Idealen und Initiativen in unsere Hände gelegt worden, die auf die Wende des 19. zum 20. Jahrhunderts zurückführt. Es handelt sich um eine komplexe, sich über Länder und Kontinente erstreckende Geschichte von Idealen, die zeitweise - vor allem in den langen Kriegszeiten - verborgen blieb. Zu Beginn stand ein Kreis von Menschen, die sich Fragen von Psyche, Geist, Erkenntnis widmeten und davon überzeugt waren, daß es notwendig sei, die Grenzen zwischen den Kulturen zu überwinden, um andere Perspektiven zu gewinnen und die Gefahr von Mißverständnissen im abendländischen Kulturerbe zu bannen.

In dieser langen und komplexen Geschichte betraf die Beziehung zur internationalen Bach-Bewegung und -Pflege zwar nur einen der vielen Aspekte, der allerdings sehr wichtig war. Wir sind sogar der Meinung, daß diese Beziehung noch heute sehr fruchtbar sein kann und daß wir unsere Arbeit des 21. Jahrhunderts mit Bach beginnen sollten. Ich freue mich deshalb besonders und empfinge es als eine große Ehre, daß heute einer der bedeutendsten Bach-Experten unserer Zeit und ein hochverdienter Förderer internationaler Kulturbeziehungen, Herr Prof. Dr. Wolfgang Niemöller, trotz seiner vielen Verpflichtungen die Zeit gefunden hat, um zu uns über "Das Bach-Jahr 2000 und die Bachforschung" zu sprechen.

Bevor wir unseren Abend mit einem Werk von Darius Milhaud abschließen, einem Komponisten, der in besonderer Weise mit der Geschichte unserer Akademie verbunden ist, möchte ich mich herzlichst bei Prof. Dr. Niemöller, Herrn Assis Mendonça, Frau Brigitte Rauscher und den Musikern bedanken. Eingangs habe ich die Worte des brasilianischen Kulturministers erwähnt und dabei hervorgehoben, daß sie für uns eine Verpflichtung darstellen, uns auf unsere Herkunft, auf unsere weit zurückreichende Geschichte und Tradition zu besinnen.

Die Ursprünge liegen in Zirkeln, die sich Ende des 19. Jahrhunderts in Lissabon sowie in Kiew und Tiflis formiert haben. Einige ihrer Mitglieder wanderten aus und brachten ihre Ideale mit. In der wechselhaften Geschichte dieser Kreise spielten einige herausragende Persönlichkeiten des europäischen und brasilianischen Geisteslebens eine entscheidende Rolle. Zu nennen sind u.a. Bernhard Paumgartner als Leiter des Mozarteums in Salzburg, Darius Milhaud als Komponist von "Saudades do Brasil", Felix Petyrek als Erneuerer des Odeons in Athen und Martin Braunwieser, der das deutsch-brasilianische Musikleben in Brasilien über Jahrzehnte geprägt hat.

Im Verlaufe dieses langen Zeitraumes wirkten diese Kreise durch verschiedenen Institutionen, die sie gründeten und z.T. früh in Vereinsregistern eintragen ließen (so S. Paulo 1929, 1931, 1935, 1968, 1981, Köln 1985, S. Paulo 1993). Viele dieser Vereine wurden nie aufgelöst und bestehen heute noch. Diese Gründungen dienten aber praktischen Zwecken und gesetzlichen Erfordernissen für die Realisierung von konkreten Projekten. Sie spiegeln auch besondere Anliegen der verschiedenen Zeiten wieder, wie die 1968 gegründete Gesellschaft Nova Difusão in São Paulo, die sich vor allem und bemerkenswerterweise an Gedanken des in Köln sehr bekannten Alphons Silbermann orientierte.

Die vielen Institutionsnamen dürfen eben nicht darüber hinwegtäuschen, daß es dabei wesentlich um ein geistiges Erbe geht, das an bestimmte Traditionsströmungen gebunden ist. Es handelt sich um ein vielschichtiges Erbe, das aber aus seiner eigenen Geschichte unverwechselbar ist, die sich von der anderer Institutionen und Organisationen klar unterscheidet. Dieses Erbe - und seine historischen Dokumente - wurde von dem letzten Vertreter dieser europäischen Auswanderkreise 1968 in meine Händen übergeben, der mich zu seinem "geistigen Sohn" machte. Ich nehme dieses geistige Erbe sehr ernst und sehe es als eine Gewissenspflicht an, diese Traditionsströmung des Denkens und Wirkens fortzusetzen.

 

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