Prof. Dr. A. A. Bispo, Dr. H. Hülskath (editores) e curadoria científica
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N° 61 (1999: 5)


 

Congresso Internacional Brasil-Europa 500 Anos
Internationaler Kongreß Brasil-Europa 500 Jahre

MÚSICA E VISÕES
MUSIK UND VISIONEN

Colonia, 3 a 7 de setembro de 1999
Köln, 3. bis 7. September 1999

Sob o patrocínio da Embaixada da República Federativa do Brasil
Unter der Schirmherrschaft der Botschaft der Föderativen Republik Brasilien

Akademie Brasil-Europa
ISMPS/IBEM

Pres. Dr. A. A. Bispo- Dir. Dr. H. Hülskath

em cooperação com/in Zusammenarbeit mit:

Deutsche Welle
Musikwissenschaftliches Institut der Universität zu Köln
Institut für hymnologische und musikethnologische Studien

 

SINN, ZIEL UND ZWECK DES KONGRESSES

Antonio Alexandre Bispo
Vorstand des I.S.M.P.S. e.V.

 

Zu Beginn unseres Kongresses ist es notwendig, dessen Sinn, Ziele und Zwecke näher zu erläutern. Dafür müssen wir uns aber daran erinnern, dass dieser Tagung andere Symposien und Kongresse vorausgingen. Es gibt eine Logik in der Thematik dieser Reihe von Tagungen, die es zu beachten gilt, wenn wir den Sinn unseres Themas verstehen wollen.

Vor 30 Jahren wurde in São Paulo eine Gesellschaft gegründet, die eine Erneuerung des Musikschaffens, des Musiklebens und der Musikerziehung auf wissenschaftlichen Grundlagen anstrebte. Musikhistorische und volkskundliche Forschungen sollten zur Erneuerung des Repertoires und der Aufführungspraxis sowie zu einer reflektierten Musikpflege beitragen, die alle Gesellschaftsschichten erreichen sollte. Dieser innige Bezug zwischen Forschung und Praxis mit innovativem Charakter wurde bereits in einem groß angelegten Festival 1970 thematisiert.

Von Anfang an ging es also nicht um Forschung um der Forschung willen, sondern um die Grundlegung einer verantwortbaren Praxis in der Gegenwart und zukünftiger Entwicklungen. Es ging von Anfang an um die Bemühung, durch Forschung, Studium, Besinnung sowie Gedanken- und Erfahrungsaustausch sich der durch Erziehung und Gewohnheit auferlegten Konditionierungen bewusst zu werden, um Fehlentwicklungen zu korrigieren und zur Optimierung der Situation in Musikunterricht, Musikleben und Musikschaffen beizutragen.

Diese Bestrebungen führten 1981 zur Veranstaltung eines internationalen Symposiums in São Paulo, bei dem auf der Grundlage der langjährigen Forschungsarbeiten und des seit Jahren aufgebauten Netzwerks von Forschern die Brasilianische Gesellschaft für Musikwissenschaft ins Leben gerufen werden sollte. Diese von der Regierung des Staates São Paulo getragene Tagung konnte auf die wertvolle Mitwirkung des Instituts für hymnologische und musikethnologische Studien zählen. Dieses Symposium sollte die Vielfalt der Musikkultur Brasiliens in Geschichte und Gegenwart in Vorträgen und Konzerten ins Bewusstsein rufen. An die verschiedenen Stile der Kunstmusik Brasiliens vergangener Jahrhunderte sowie an die musikalischen Ausdrucksweisen der verschiedenen Regionen sollte erinnert und sie sollten in ihrem jeweiligen Kontext angemessen gewürdigt werden. Dadurch sollte jeder Verengung der Betrachtung, die stets zu kultureller Verarmung führt, entgegengewirkt werden. Es sollte sogar aufgezeigt werden, dass die Musik der verschiedenen Zeiten und Regionen und auch die Personalstile einer Vielfalt geistiger Strömungen entsprachen, die vielfach noch in der Gegenwart weiterwirken.

Bei der zu diesem Anlass 1981 erfolgten Gründung der Brasilianischen Gesellschaft für Musikwissenschaft wurde zugleich u.a. auf Vorschlag von Luis Heitor Correa de Azevedo (International Music Council/UNESCO) und angesichts der besonderen Bedeutung der deutsch-brasilianischen Musikbeziehungen die Einrichtung eines nicht konfessionell gebundenden Instituts für Studien der Musikkultur des portugiesischen Sprachraumes in Deutschland beschlossen, das die Brasilianische Gesellschaft für Musikwissenschaft in Europa vertreten und auf internationaler Ebene die Zusammenarbeit mit Brasilien auf dem Gebiet der Musikforschung fördern sollte. Bereits 1982 konnte eine erste deutsch-brasilianische Musikwoche in der Stadt Leichlingen veranstaltet werden. Zu den Persönlichkeiten, die die Organisation dieses Instituts in den folgenden Jahren besonders unterstützt haben, zählte Prof. Dr. Francisco Curt Lange, Direktor des Interamerikanischen Instituts für Musikforschung (Montevideo).

1986 - im Gedächtnisjahr von H.Villa-Lobos - fand ebenfalls in São Paulo der erste Kongress für Musikwissenschaft Brasiliens statt. Zu diesem Anlass trafen sich auch die Teilnehmer eines groß angelegten Projekts der UNESCO, das die Erarbeitung einer Weltgeschichte der Musik zur Aufgabe hat. Das Ziel des Kongresses bestand darin, einen Gesamtüberblick über die Situation der Musikforschung des Landes zu gewinnen. Vor allem sollte auch das Spektrum der verschiedenen Denkströmungen und methodologischen Ansätze in der Forschung aufgezeigt werden. Es wurde dabei ersichtlich, dass in den Kulturwissenschaften Brasiliens - insbesonders hinsichtlich der Musik - Vorstellungen und Vorgehensweisen herausragender Persönlichkeiten der Vergangenheit in ihren Schülern und in den von ihnen gegründeten Institutionen weiterleben, sodass sich Traditionen in Forschung und Lehre herausgebildet haben. Daneben entstanden neue Netzwerke von Wissenschaftlern mit anderen Ansätzen, anderer Begrifflichkeit und anderer Terminologie, die vor allem in den Vereinigten Staaten ausgebildet worden sind, sich anderen Zusammenhängen in der Geschichte der Forschung zugehörig fühlten und für die Überwindung überkommener Denkweisen und Methoden eintraten. Diese Situation machte sich besonders im Bereich der Erforschung der Volkskultur und ihrer Musik bemerkbar, wobei eine ganze Disziplin, nämlich die Volkskunde, regelrecht in eine Krise geraten war.

1989 wurde in Bonn und Köln unter der Schirmherrschaft der Brasilianischen Botschaft und mit Unterstützung durch die Portugiesische Mission von Köln ein Symposium veranstaltet, das sich dann mit dem Sinn der Volkstraditionen in ihren unterschiedlichen Ausdrucksformen befasste. Eine besondere Aufmerksamkeit wurde dabei dem so genannten Synkretismus gewidmet, d.h. dem Vorkommen von Sinnbildern, Begriffen, Auffassungen und Praktiken unterschiedlichen Ursprungs in ein und demselben Kontext. Dabei wurde die Notwendigkeit hervorgehoben, eine gründliche Revision bisheriger Erklärungsmodelle dieser Kulturphänomene durch Grundlagenforschung anzustreben.

Nicht zuletzt aus diesem Grund wurde für das Jahr 1992 - in dem die Entdeckung Amerikas vor 500 Jahren gefeiert wurde - ein zweiter Kongress für Musikwissenschaft Brasiliens in Rio de Janeiro einberufen, der das Thema "Grundlagen der Musikkultur Brasiliens" diskutieren sollte. Aus diesem Kongress gingen zwei Projekte hervor, deren Ergebnisse während einer für das Jahr 2000 geplanten internationalen Tagung vorgestellt werden sollten, um daraus weitere praxisbezogene Initiativen zu begründen.

Das eine Projekt betrifft die Erhebung des ethnologischen Wissens über die Musikkulturen der Indianer Brasiliens als notwendige Voraussetzung für das Erkennen indigener Auffassungen über die Musik in ihrer Kultur und somit als Vorbedingung für Maßnahmen zur Unterstützung ihrer bedrohten Kulturen, in denen dem musikalischen Aspekt besondere Bedeutung zukommt. Dieses Projekt war während des I Brasilianischen Kongresses 1986 entworfen worden. Es wurde vom Auswärtigen Amt der Bundesrepublik Deutschland unterstützt und wird im Rahmen der Arbeit des Instituts in Maria Laach durchgeführt, das gleichzeitig zum Kongress in Rio de Janeiro sein zweites kirchenmusikalisches Symposium in Brasilien veranstaltete. Das andere Projekt bezieht sich auf die Untersuchung von Grundlagen der nicht-indigenen Musikkultur Brasiliens mit Einbeziehung ihrer Vorstellungen, Auffassungen und Selbstreflexionen.

Lassen Sie mich den scopus dieses zweiten Projekts kurz umreißen. Wenn wir z.B. die Musikgeschichte des 16. Jahrhunderts in Brasilien erforschen möchten, genügt es nicht, die Notizen aus Briefen zusammenstellen. Wir müssen die Auffassungen der Zeit berücksichtigen, um zu verstehen, warum und wie die Musik bei der Begegnung zwischen Europäern und Eingeborenen eingesetzt wurde. Diese Auffassungen wurden jedoch abhängig vom Stand der Forschung, von der Methode und von der Perspektive des Betrachters unterschiedlich gedeutet oder gar bewertet. Es wurde z.B. übersehen, dass die Verwendung der Musik in der damaligen Zeit eng mit einer uns fremd gewordenen Art des Geschichtsverständnisses und der Hermeneutik zusammenhing; ohne die Beachtung der daraus erwachsenen Typenlehre ist jedoch die Symbolik der Musikinstrumente und Tänze im Brauchtum nicht zu verstehen.

Ähnliches gilt für die Betrachtung der Musikkultur anderer Epochen der Musikgeschichte Brasiliens. Maßgebliche Vertreter einer nationalistisch geprägten Musikgeschichtsschreibung waren z.B. der Meinung, dass alles vor der Entstehung einer Musik mit den ihnen bekannten charakteristischen brasilianischen Merkmalen nur die Rezeption europäischer Musik widerspiegele und deshalb keine besondere Bedeutung besäße. Es entfachte sich eine Diskussion darüber, ob von einer Geschichte der Musik Brasiliens, einer Geschichte der brasilianischen Musik oder einer Geschichte der Musik in Brasilien gesprochen werden sollte.

Am offensichtlichsten tritt diese Problematik bei der Untersuchung der Volkskultur in Erscheinung. Da das Interesse für die Volkskunde Brasiliens erst im ausgehenden 19. Jahrhundert einsetzte, hing es meist mit dem erwachenden Nationalismus zusammen. Die Musik, die Spiele und die Tänze wurden als Grundlage einer in Entstehung begriffenen Nationalkultur angesehen. Andere Gelehrte, z.B. diejenigen, die marxistisch orientiert waren, erklärten diese Traditionen unter anderer Perspektive.

Heute verfügen wir über größere Kenntnisse der historischen Quellen, einen umfassenderen Zugang zur volkskundlichen Literatur anderer Länder und dadurch auch über mehr Informationen und Vergleichsmöglichkeiten. Wir erkennen dadurch, dass viele Erklärungen der Vergangenheit nicht nur unzureichend, sondern schlicht falsch waren; die Forscher hatten den Sinn vieler Volkstraditionen nicht verstanden. Aus all dem wird ersichtlich, dass wir die Forschung stets mit einer Reflexion über die Bedingtheiten des Forschens selbst begleiten müssen.

Bei dem 1992 initiierten Projekt geht es demnach nicht darum, zu einem bestimmten Abschluss zu kommen, sondern um die Durchsetzung einer reflektierten Art und Weise des Herangehens an die Forschungsgegenstände, um eine ständige Überprüfung der eigenen Ansichten und um die Entwicklung eines hierfür geeigneten methodologischen Rahmens. Um diesen Vorgang auf den Weg zu bringen, wurde als freiwilliger Zusammenschluss einiger aktiver Teilnehmer des Kongresses - nachdem in Brasilien ein geräumiges Gebäude mit Bibliothek und Sammlungen als Studien- und Tagungszentrum zur Verfügung gestellt werden konnte - die Akademie Brasil-Europa für Kultur- und Wissenschaftswissenschaft ins Leben gerufen. Die bisherigen Institutionen waren für diese Aufgaben aus verschiedenen Gründen nicht geeignet; so waren und sind z.B. viele der aus der praktischen Musik stammenden Musikforscher eher daran interessiert, ganz konkret Noten aus dem 18. und 19. Jahrhundert aufzufinden, um sie in Konzerten aufführen zu können. Die angestrebten Ziele des Projektes erscheinen ihnen zuweilen gegenstandslos oder utopisch.

Seit dem Kongress 1992 wurden die Überlegungen in Tagungen, Vorträgen und Diskussionen vertieft. Bei einem internationalen Kolloquium, das im vergangenen Jahr im brasilianischen Studienzentrum der Akademie stattfand, wurde die Aufmerksamkeit anhand eines konkreten Beispieles auf die Beziehung zwischen überlieferten Musikauffassungen und der Bildersprache der brasilianischen Volkstraditionen gerichtet. Das Verhältnis zwischen Musik und Bild wurde unter verschiedenen Aspekten beleuchtet und diskutiert. Dabei wurde ersichtlich, dass dieses Verhältnis zwar in den Spielen und Tänzen der Volkstradition am sinnfälligsten zum Ausdruck kommt, sich aber keinesfalls auf die Folklore beschränkt. Aus diesen Überlegungen entstand das Thema unseres Kongresses: Musik und Visionen.

Aus praktischen Gründen haben wir vier Punkte für unsere Diskussionen während des Kongresses hervorgehoben, auf die ich hier näher eingehen möchte.

Es handelt sich 1) darum, Überlegungen über die Beziehung zwischen Musik und dem Bild Brasiliens in Europa, Europas in Brasilien und Brasiliens in Brasilien selbst anzustellen. Was ist damit gemeint? Sie wissen, dass heute vor allem unter dem Einfluss der Werbung sehr oft von "Image" eines Menschen, einer Institution oder eines Landes gesprochen wird. Wenn wir an Brasilien denken, kommen in uns bestimmte Bilder auf, sei es z.B. Urwald, Copacabana, Fußball oder auch Armut und soziale und ökologische Missstände. Auch denken wir an bestimmte Musik, etwa an Samba oder Villa-Lobos. Der Europäer, der dann an Ort und Stelle die komplexe Realität kennenlernt, wird überrascht und vielleicht irritiert, sein Bild vom Land ändern zu müssen. Das Bild Brasiliens im Ausland hat sich jedoch ebenfalls in der Geschichte verändert wie auch die Musik, die mit dem Land besonders in Verbindung gebracht wurde. Im letzten Jahrhundert bot z.B. Brasilien den Europäern ein ganz anderes musikalisches Erscheinungsbild: es galt keineswegs als ein Samba-Land, sondern als ein Land, in dem groß angelegte, pompöse orchesterbegleitete Chormusik geliebt wurde und dessen Ethos vor allem durch die sentimentalen und sehnsüchtigen Modinhas zu erfassen war. Auch das Bild Europas in Brasilien hat sich im Verlaufe der Geschichte und in den verschiedenen Regionen verändert. So sah man die Musik des Abendlandes lange Zeit unter der Perspektive der italienischen Entwicklungen, später hat Frankreich das Bild geprägt, und in Kreisen der deutschsprachigen Auswanderer und später bei führenden Kräften des Musiklebens war die Rolle Deutschlands zur Bestimmung des Bildes europäischer Musikkultur maßgeblich. Es gibt aber auch unterschiedliche Sichten über Brasilien in Brasilien selbst, man denke nur an die indianischen Kulturen, die z.B. das durch das Fernsehen empfangene Bild des Landes mit ganz anderen Augen rezepieren.

Indem wir uns - wenn auch nur ansatzweise - mit dieser Vielfalt und Wandelbarkeit des Erscheinungsbildes beschäftigen, befreien wir uns von festgefügten Vorstellungen. Wir fühlen uns dann auch nicht mehr gedrängt, nur diejenigen Aspekte der Geschichte und Gegenwart wahrzunehmen oder positiv zu werten, die unserem Bild entsprechen. Dadurch gewinnen wir auch an Offenheit gegenüber anderen Musiksphären - wie z.B. derjenigen der Indianer. Wir lernen darüberhinaus, weniger vom Erscheinungsbild auszugehen, und somit empfänglicher für das zu werden, was nicht in Erscheinung tritt, d.h. was uns zunächst einmal verborgen war. Die Aufmerksamkeit wird damit nicht auf Vordergründiges, sondern auf Zugrundeliegendes oder Ursächliches gerichtet; sie verlagert sich gleichsam von der Ebene der Wirkungen auf die der Ursachen. Von hier aus ist es aber auch möglich, neue Entwicklungen einzuleiten, d.h. Entwürfe zu schaffen, die dann in der sichtbaren Realität in Erscheinung treten sollen. Damit wird die Bedeutung unserer Überlegungen für den Schaffensprozess ersichtlich.

Bei unserer Tagung handelt es sich 2.) auch darum, Ansichten der Musikforscher wahrzunehmen, die die Musikgeschichte und die Volkskultur des Landes unter bestimmten Blickwinkeln betrachteten und dadurch die Vorstellungen über die Musikkultur des Landes nachhaltig prägten. Durch ihre Anschauungen setzten sie zuweilen bestimmte Entwicklungen in Gang, die bis heute unsere Sicht bestimmen oder beeinflussen. Man denke beispielsweise an die Sichtweise eines Mario de Andrade, die die Geschichte des musikalischen Denkens des 20. Jahrhunderts Brasiliens zutiefst prägte und die bis heute kaum jemand in Frage zu stellen wagt; ähnliches gilt für Renato Almeida und viele andere mehr. Wenn wir einige Publikationen über die Musik Brasiliens in Deutschland oder deren Rezensionen genauer betrachten, werden wir erstaunt sein, wieviele unreflektierte Informationen aus Publikationen verschiedener Autoren ohne Berücksichtigung ihrer Vorstellungen zusammengetragen werden.

3) sollten auch die Anschauungen von Autoren, die sich nicht speziell als Musikforscher bzw. Musikschriftsteller betätigten, aber in ihren Werken Aussagen über die Musik machten, berücksichtigt werden. Sie prägten dadurch die Vorstellungen über die Musik, ihre historische Entwicklung und ihre Rolle in der Kultur in den Geisteswissenschaften im allgemeinen und so den gesamten Rahmen, in dem auch die Musikforschung im eigentlichen Sinne angesiedelt ist. Man denke beispielsweise an die Aussagen zur Musik im Werk eines Gilberto Freire. Wenn wir uns aber in die Lage versetzen, die Ansichten der Autoren wahrzunehmen, befreien wir uns von unüberlegten Bindungen an bestimmte Schulen, Denkströmungen und Kreise. Wir gewinnen an Freiheit, um gerade zu Beginn des neuen Jahrtausends unzeitgemäß gewordene Ansichten dieses Jahrhunderts zu überdenken.

Letztlich soll 4.) unsere Tagung die tiefere Bedeutung des Verhältnisses zwischen Musik und Visionen unter bestimmten Aspekten berücksichtigen. Ausgangspunkt unserer Überlegungen ist hier die reichhaltige religiöse Volkskultur Brasiliens, vor allem in ihren mystischen Erscheinungsformen. Hierbei sind wir besonders dankbar, auf die Unterstützung des Instituts für hymnologischen und musikethnologische Studien in Maria Laach zählen zu dürfen.

Die Bildersprache der tradierten Spiele und Tänze weist eindeutig auf die Beziehung zwischen "Vision" und Musik hin. Sie vermittelt uns darüber hinaus den Gesamtzusammenhang der Anschauungen von Welt und Mensch, innerhalb desser Vision und Musik zu betrachten sind. Unter Vision wird selbstverständlich nicht das Sehvermögen des Auges verstanden, sondern ein inneres Sehen, das mit Vorstellung, Imagination, Durchblick, d.h. auch mit Erkennen zusammenhängt; auch ein Blinder verfügt über dieses innere Sehen. Ebenso betrifft die "Musik" nicht nur das akustisch Erklingende, das vom Ohr wahrgenommen wird, sondern geistige Vorgänge, die in übertragenem Sinne mit Musik zu vergleichen sind. Damit ist in alter Tradition des Denkens das Überlegen und Erwägen gemeint. Wir können diese Analogie leicht nachvollziehen. Weil die Musik in der Zeit verläuft, gleichsam fließt, zerrinnt und nicht festzuhalten ist, wird sie seit der Antike mit Wasser verglichen und wurde sogar als "scientia aquatica" bezeichnet. Diese Vorstellung bleibt in der Volkskultur Brasiliens äußerst lebendig, und das Sinnbild der "Mutter des Wassers" stellt die Grundlage der Bildersprache der brasilianischen Volksreligiosität dar. Mit den Wellen des Wassers können wir die geistige Tätigkeit des Überlegens und Erwägens vergleichen, weil auch dies in einem Hin und Her erfolgt. Diese wellenartigen geistigen Vorgänge können stürmisch oder friedlich und besonnen sein und uns seelisch in Aufruhr versetzen oder inneren Frieden bereiten. Sorgfältiges Abwägen geht Entscheidungen und Urteilen voraus. Es kann auch mit dem Vorgang des Planens verglichen werden, weil beim Planen Möglichkeiten und Mittel zur Verwirklichung eines visualisierten Projekts geprüft werden.

In diesem Sinne kann und soll das Thema unseres Kongresses, "Visionen und Musik" in übertragenem Sinne etwa als "Vorstellungsbilder und Überlegungen" oder "Projekte und Pläne" verstanden werden.

Lassen Sie mich zusammenfassen: Die Tagung, die heute beginnt, ist als eine Art Vor-Kongress gedacht. Der Hauptteil des Kongresses soll im nächsten Jahr in Brasilien stattfinden. Dort sollen ganz konkret Entwürfe und deren Durchführung in der Praxis diskutiert und in Gang gesetzt werden. So soll z.B. ein Projekt zur Verbesserung des Musikunterrichts in den Schulen ausgearbeitet, die Wege zu dessen Verwirklichung erwogen und den maßgeblichen Instanzen zugeleitet werden. Bevor wir aber ein solches Projekt entwerfen, müssen wir uns über unsere Vorstellungen über Sinn und Zweck des Musikunterrichts klar werden. Einige von uns denken vielleicht an die Vermittlung von technischen Fertigkeiten und künstlerischer Ausdrucksmöglichkeiten, die für die Heranbildung junger Musiker oder neuer Hörerschichten erforderlich sind, anderen dagegen steht eine ganzheitliche musische Formung der Kinder und Jugendlichen vor Augen, wieder andere wollen lediglich Freude und Spaß vermittelt wissen. Wir sind nämlich durch Ausbildung, Umwelt und Gewohnheit konditioniert und streben vielfach nach Verwirklichung von Vorstellungen, deren wir nicht bewusst sind. So leben in Brasilien die orpheonischen Vorstellungen und Zielsetzungen eines Heitor Villa-Lobos neben vielen anderen Ansätzen, wie z.B. der polyvalenten Kunsterziehung, weiter. Um möglichst bewusst Projekte zu entwerfen und Pläne zu schmieden, d.h. schöpferisch zu gestalten, sollten wir demnach unsere Wahrnehmung für die Vorstellungsbilder und Pläne der Vergangenheit schärfen, die vielfach in uns unbewusst weiterwirken. Durch die geistige Betrachtung der großen Ideen unserer Vorfahren und durch das Überdenken damaliger Entscheidungen angesichts der vorhandenen Möglichkeiten können wir uns entfalten. Da es für eine möglichst breite Perspektive erforderlich ist, einen fernen Standpunkt einzunehmen, ist es sinnvoll, dass dieser erste Teil des Kongresses nicht in Brasilien selbst, sondern hier in Europa und zwar außerhalb auch des alten Mutterlandes Portugal, durchgeführt wird.

Meine Damen und Herren, immer mehr wird die Entdeckung Brasiliens durch die Portugiesen nicht weiter als Ergebnis eines Zufalls, sondern eines planvollen Vorgehens angesehen. Auf jedem Fall gingen der Entdeckung der Neuen Welt Visionen voraus, und die Entdeckungen wurden mit Musik begleitet, wie die Forschung in zunehmendem Maße aufdeckt. So gesehen hat es einen tiefen Sinn, wenn wir am Vorabend des 500. Geburtstages von Brasilien einen Kongress veranstalten, der sich dem Thema "Musik und Visionen" widmet. Wir wünschen uns naturgemäß für das nächste Jahrtausend die Verbesserung der Lebensbedingungen, der Gerechtigkeit, eine andere Einstellung gegenüber der Natur und den anderen Lebewesen, neues und gelungenes Schaffen und Optimierung in jeder Hinsicht. Lassen Sie uns gleichsam das Abenteur der Portugiesen vor 500 Jahren wiederholen. Lassen Sie uns eine Neue Welt wie zufällig entdecken, indem wir an unseren Visionen liebevoll festhalten und mit fester Zuversicht deren Verwirklichung in dem Bewusstsein entgegensehen, dass Imagination und Phantasie eine viel höhere Gestaltungskraft besitzen als vielfach angenommen.

 

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Texto sem notas, bibliografia, exemplos musicais e ilustrações.
Artigos completos nos Anais do Congresso "Brasil-Europa 500 Anos: Música e Visões".

Text ohne Anmerkungen, Bibliographie, Notenbeispiele und Illustrationen.
Vollständige Beiträge im Kongressbericht "Brasil-Europa 500 Jahre: Musik und Visionen".

 

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